Gelato italiano
Mit dem Erreichen des Griespasses haben wir auch den Startpunkt der großen Alpenüberquerung "Grande Traversatta delli Alpi" erreicht. 39 Tage nach dem Start in Speyer betrete ich nun das vierte Land dieser Wanderung. Für mich war die GTA der Auslöser dieser großen Tour, umso mehr freue ich mich jetzt darauf auf alten traditionsreichen Wegen durch das Piemont zu wandern. Aber noch sieht man von diesen Wegen wenig, denn die Schneesituation bleibt nach dem Grenzübertritt natürlich unverändert.
Schnee bis zu Horizont. Auf Grund der warmen Temperaturen handelt es sich eher um verdichteten Schneematsch, als um eine feste Schneedecke. Mit jedem Schritt sinken wir ein. Teils brechen wir durch Hohlräume gar bis zur Hüfte in den Schnee ein. Das macht die ersten Etappen besonders anstrengend.
Outdoor Laufsteg in den Bergen
Auch wenn sich das Landschaftsbild gegenüber der Schweiz nicht gravierend ändert, der Charakter der Orte hat sich seit dem Grenzübertritt komplett gewandelt. Schon von der Ferne sehen die piemontesischen Bergdörfer gänzlich anders aus als die Siedlungen im Nachbarland. Während im Wallis vorrangig alte schwere Holzhäuser mit dunklen wettergegerbten Fassaden dominierten, sind es hier Häuser aus Naturstein. Sogar die Dachschindeln sind aus gespaltenen Natursteinen gebaut. Leider ist es auch vorbei mit der guten schweizer Infrastruktur. Weder mobiles Netz, noch einen Geldautomat gibt es hier. Auch einen Lebensmittelladen sucht man vergebens. Umso erstaunlicher ist, dass der erste Ort auf den wie in Italien stoßen zwar ohne Straßenanschluss, aber dafür voller italienischer Touristen ist. Wir kommen uns vor, wie auf einem Outfitter- Laufsteg in den Bergen. Durchtrainierte und braungebrannte Italiener*innen stolzieren die Naturwege im Ort auf und ab. Cafés und Bars haben die Sonnenschirme aufgestellt, es gibt kalte Getränke und Kaffee. Wir lassen uns ein kaltes Bierchen schmecken und verfolgen das überraschende Schauspiel. Bei dem Trubel fällt es schwer zu glauben, dass der Ort außerhalb der Saison praktisch ausgestorben ist.
Auf alten Transitwegen durch die Alpen
Je weiter wir nach Süden kommen, umso weniger Schnee liegt auf den Wegen. Wir müssen uns nicht mehr auf den Wegverlauf und mögliche Gefahren konzentrieren und können stattdessen den Blick über die Landschaft schweifen lassen. Besonders auffällig sind die sorgfältig errichteten Wege denen wir folgen. Die glattpolierte Oberfläche der Steine verrät, dass wir nicht die ersten Wanderer auf diesen Wegen sind. Tatsächlich verläuft die GTA über weite Strecken auf alten Transitwegen. Gebaut in einer Zeit in der noch Esel- und Muli- Karawanen den Warentransport sicherstellten. Ein engmaschiges Netz dieser Straßen durchzieht die Berge. Oder besser gesagt durchzog. Denn ein großer Teil der Wege verschwand mit dem Straßenbau unter Asphalt oder verfällt ganz still, weil es keinen Nutzungsbedarf mehr gibt. Im Zuge der Initiierung der GTA wurden einige Wege wieder freigeschlagen und instandgesetzt. So ergibt sich für uns die Möglichkeit einer einmaligen Zeitreise. Immer wieder finden wir an der GTA die stillen Zeitzeugen des alten Warenaustausches mit Brücken, Lagerplätzen, Brunnen und Umschlagsorten. Auf dem Weg, auf dem wir gerade gehen, wurde früher der berühmte Hartkäse der Schweiz (Sbrinz) nach Italien gebracht. Auf dem Rückweg waren die Tiere dann mit Oliven und Wein beladen. Um das Andenken an diese Kultur zu erhalten hat sich ein Verein gegründet der mehrfach im Jahr den Weg nach alter Säumertradition mit Tieren begeht.
1000 Höhenmeter täglich
Die GTA ist keine Kammwanderung. Der Weg verläuft quer zur Auffaltung der Westalpen, so dass es täglich hoch und runter geht. Meist erfolgen die Übernachtungen im Talort. Am Morgen steigt man dann auf den Pass (manchmal sind auch 2 oder 3 Pässe zu queren), um später am Nachmittag wieder hinab zum nächsten Ort zu steigen.
So kommen wir im Schnitt auf mehr als 1000 schweißtreibende Höhenmeter im Anstieg pro Tag. Mein Rekord liegt sogar bei 2182hm an einem Tag. Jetzt zahlt es sich aus, dass wir unsere Rucksäcke gewichtsmäßig optimiert hatten. Trotzdem verbleiben bei mir 12,8kg und bei Elke 10,8kg. Wasser und Verpflegung kommen oben drauf. Konkret sind das am Morgen meist 2 Liter Wasser und eine Kleinigkeit für die Mittagsrast. Macht zusammen dann 2,5kg zusätzlich.
In Summe ist das deutlich weniger, als auf unseren letzten Touren. Dass es mit noch weniger geht, beweisen uns aber immer wieder einige Ultraleicht- Wanderer. Auf der anderen Seite treffen wir auch Wanderer, die dem Thema Ausrüstungsgewicht kaum Beachtung schenken und auch zufrieden die GTA entlang wandern.
Das Posto Tappa System
Die GTA ist anders. Eine Fernwanderung entlang der GTA unterscheidet sich in vielen Punkten von einer normalen Alpenüberquerung. Zum einen sind das die vielen Höhenmeter und die abgelegene Lage. Ein ganz anderer Punkt ist die Versorgung und die Übernachtungsmöglichkeiten unterwegs.
Auf der GTA übernachtet man meist im Ort und eher selten auf Berghütten. Und das hat einen guten Grund: Die GTA wurde in den 80er Jahren als Projekt gegründet, welches der Bergbevölkerung ein zusätzliches Einkommen und damit Perspektive geben soll. Daher wird auf Bestehendes und nicht auf Neues gesetzt. Sowohl bei den Wegen, als auch bei den Unterkünften. Die Streckenführung berücksichtigt dabei sehr genau, ob am Etappenende auch Unterkünfte zur Verfügung stehen. Aber was, wenn es in dem Ort, den man nach 8h Wanderzeit erreicht gar keine Unterkunft gibt? Ganz einfach: Man überzeugte den Betreiber des Restaurants eine einfache Wanderunterkunft zusätzlich anzubieten. Daraus entstand das System der Etappenunterkünfte ("Posto Tappa"). Das System ist einfach und genial. Am Ende einer GTA Etappe befindet sich immer ein Posto Tappa, in dem wir schlafen und essen konnten. Das Ganze gibt es zum Pauschalpreis von 45-60€ p.P. (2019). Die Ausstattung der Unterkünfte ist dabei sehr unterschiedlich. Vom sehr einfachen Gemeinschaftsschlafsaal in einer ehemaligen Schule bis hin zum Einzelzimmer im Hotel ist alles dabei.
Immer inklusive ist das Abendessen (Mehrgänge- Menü) und ein Frühstück (Zwieback mit Marmelade).
Das Albergo Fontana in Rimella
Auf einer langen Wanderung sind Ortsnamen oft schnell vergessen. Wie hieß nochmal der Ort vor 3 Tagen? Nur gut, dass wir den Wanderführer dabeihaben und ein Tagebuch führen. Sonst würde es schwierig.
Aber es gibt eine Ausnahme. Egal mit wem wir auf der GTA sprechen, das Albergo Fontana im Rimella kennt jeder. Auch die, welche gar nicht in Rimella waren. Ich glaube sogar, dass das Albergo Fontana inzwischen ein Markenzeichen der GTA geworden ist. Der Bekanntheitsgrad rührt daher, dass sich der Verein Initiative Pro Rimella sehr aktiv für das Projekt GTA und die Förderung des umweltfreundlichen Wandertourismus in und um Rimella einsetzt, zum anderen aber in dem fantastischen piemontesischen Menü, welches hier jeden Abend serviert wird.
Wie jeden Abend so sitzen wir auch im Albergo Fontana pünktlich 19:30Uhr mit den anderen Wanderern an einer langen Tafel und warten hungrig auf das Essen. Was dann folgt ist einzigartig auf der GTA. Die drei sehr speziellen Frauen des Hauses wirbeln durch die Küche und bringen Gang um Gang. Natürlich erst die vielen verschiedenen Antipasti, dann das Primo und Secundo und zum Schluss das Dulce. Fein getrennt nacheinander. Die Qualität der Speisen und die fein abgestimmte Reihenfolge sind einzigartig und eine Werbung für das Slowfood.
Inzwischen ist es 23:00Uhr der 13. und letzte Gang wird gebracht. Hunger hat niemand mehr, aber es ist zu lecker. Zum Abschluss dann noch ein Grappa und die Energiereserven sind für den nächsten Tag wieder gefüllt.
Die Letzten löschen das Feuer
Seit Wochen laufen wir durch die Berge des Piemonts. Dabei begegnen wir täglich den Zeugnissen einer dramatischen Entvölkerung des Alpenraums. Verfallene Hirtenhütten, Almwiesen, welche vom Wald wieder in Besitz genommen werden, leere Häuser, fehlende Infrastruktur, ja gar komplett leere Dörfer. Ein einzigartiges Kulturland verschwindet. Still und leise geht dies vor sich. Alpenpapst Bätzing beschreibt sehr eindrücklich in seinem Buch "Die Alpen" diese Entwicklung und lässt uns verstehen, welche Veränderungen in diesem Teil der Alpen ablaufen. Die Statistiken sprechen von 95-99% Bevölkerungsrückgang in den letzten 150 Jahren. In absoluten Zahlen kaum vorstellbar. Es macht uns traurig zu sehen wie dieses Jahrhunderte alte Kulturland mit einer faszinierenden Artenvielfalt verschwindet.
Auf der anderen Seite können wir nachvollziehen, dass die Jungen in der Bergbauernwirtschaft keine Perspektive mehr sehen und in die Städte der Ebene ziehen. Das Projekt GTA will hier gegensteuern und sichert einigen ein Zusatzeinkommen. Viel ist das bei ca 250-300 Wanderern pro Jahr allerdings nicht.
Als wir im Vognatal in einem Posto Tappa übernachten finden wir das Buch "Die Letzten löschen das Feuer" von Eberhard Neubronner. Darin beschreibt der Autor sehr einfühlsam den alpinen Alltag der Bergbauern und hatte sich dafür dafür mehrere Monate in dem Posto Tappa einquartiert.
Rocciamelone - 3538m
Fast schon ehrfürchtig schauen wir auf die alles überragende Spitze des Rocciamelone, als wir am Morgen am Refugio Vulpot auf 1820m starten. In Anbetracht der Entfernung und des Höhenunterschiedes kann ich mir kaum vorstellen, dass wir es bis zum Abend auf den, von hier so weit entfernten, Gipfel schaffen. Wir umrunden den kleinen Stausee, laufen vorbei an den vielen Italienern, welche hier am See ihr Zelt aufgeschlagen haben und steigen dann die erste Etappe hinauf zum Colle Croce di Ferro, der erste Pass mit 2558m. Nach einem weiteren hangparallelen Abschnitt verlassen wir die GTA und zweigen nach Westen auf direktem Weg zum Refugio Cá d' Asti ab.
Wie sich bald herausstellt quert dieser Wegabschnitt einen sehr steilen Grashang. Hier ist höchste Konzentration angesagt und wir kommen nur langsam voran. Auch wenn die Blumenwiesen noch so schön blühen, diese Hänge können bei Nässe zu gefährlichen Rutschbahnen werden. Aber alles ging wieder gut und gegen 15 Uhr haben wir die Hütte auf 2854m erreicht. Wir trinken noch einen Kaffee und füllen dann das Wasser auf. Auf dem Gipfel gibt es keine Versorgung. Alles was wir benötigen müssen wir von hier mitnehmen. In der Hütte ist viel Betrieb und das Matratzenlager ist auch schon voll. Ob der Gipfel ebenso gut frequentiert ist? Nachdem wir nun wissen, dass die Besteigung heute noch machbar ist, ist dies die nächste Frage, die uns beschäftigt. Der Rocciamelone ist der höchstgelegene Wallfahrtsort Europas. Oben gibt es eine kleine Kapelle und sogar einen Biwakraum. Dort wollen wir heute übernachten.
Steil steigen wir die Schotterhänge des Berges hinauf. Noch 700 Höhenmeter liegen vor uns. Immer steiler und ausgesetzter führt der Weg hinauf. Hinzu kommt die dünne Luft. Mit dem Zusatzgewicht (Wasser und Verpflegung) auf dem Rücken kommen wir mächtig ins Schnaufen. Der Blick ist dafür jetzt schon fantastisch.
Oben angekommen, die nächste Überraschung. Der Biwakraum ist leer und das obwohl morgen die jährliche Wallfahrt stattfindet. Wir treffen eine Italienerin, welche die Kapelle für den Festtag vorbereitet und oben in der Kapelle übernachtet. Nach Ihren Aussagen zwängten sich gestern 14 Leute in das Biwak, welches für 8 Personen ausgelegt ist. - Haben wir ein Glück!
Am Abend erreicht uns dann noch unser Wanderfreund Klaus, mit dem wir uns hier oben verabredet hatten. Der Blick ist atemberaubend. Die Sonne färbt die Landschaft orangerot ein. Wir können weit nach Norden schauen und erkennen Gipfel an denen wir in den letzten Wochen vorbeigelaufen sind. Im Süden dagegen zeigt sich eindrucksvoll der Monteviso, als wenn er uns für die nächsten Etappen motivieren wollte. Wir können uns nicht sattsehen.
Dann finden sich noch zwei Bier und eine Flasche Rotwein in den Rucksäcken. Na kein Wunder, dass der Aufstieg so beschwerlich war. Mit Rotwein und Kerzen versuchen wir ein wenig der aufziehenden Kälte zu trotzen. Dann fallen wir in unsere Schlafsäcke.
Stadtluft in Turin
Vom Gipfel des Rocciamelone geht es an einem Stück 3000 Höhenmeter bergab nach Susa, einer kleinen sympatischen Stadt im gleichnamigen Tal. Der erste große Abschnitt der GTA liegt hinter uns. 32 Tage waren wir auf der GTA bisher unterwegs und haben 460km zurückgelegt. Das heißt aber auch, dass Elkes Urlaub sich dem Ende nähert. Es verbleiben gerade mal noch 4 Tage Zeit. Das Zugticket ab Turin ist schon gekauft. So bietet es sich an, noch ein paar Tage in Turin zu verbringen. Für uns ein schöner Abschluss der gemeinsamen Wandertour und ein paar Ruhetage kann ich in Anbetracht der folgenden Etappen sicher auch gut gebrauchen.
Fazit: GTA Nord- vom Griespass nach Susa
- 29/ 3 Wander- /Pausentage
- 459 Kilometer
- 31.700 Höhenmeter im Anstieg
- Highlights: piemontesiche Menüs am Abend, Rocciamelone, artenreiches Kulturland
- Überraschendes: Zum Zelten ist der Nordteil kaum geeignet, Das Zelt habe ich zurück geschickt
- Negatives: nix
- Gefährliches: steile Wiesenhänge, besonders wenn nass und nicht beweidet
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