In den Mercantour Nationalpark
Am Morgen starte ich bei Nieselregen und trüben Wetter an dem Rifugio Ellena Soria. Noch einmal 640 Höhenmetern, dann habe ich den Pass Col de Fenestra erreicht. Hier oben stürmt es und eisiger Regen peitscht mir ins Gesicht. Das Italien- Abschiedsbild will nicht gelingen, immer wieder wirft es mir die Kamera um und ich friere im Wind. Dann verlasse ich Italien und steige hinab in den Mercantour- Park in Frankreich. Schon wenige hundert Meter tiefer sind die Wolken verschwunden und die Sonne wärmt mich.
Auch sonst staune ich, welche Unterschiede sich durch den Grenzübertritt plötzlich ergeben. Als erstes überrascht mich, dass hunderte gut gelaunte Franzosen mir entgegenkommen. Ganze Großfamilien erkunden den Park und picknicken an den Seen. Die zahlreichen Gämsen und Steinböcke lassen sich dadurch kaum stören. Vermutlich wird hier, anders als in Italien, das Jagdverbot streng durchgesetzt und die Tiere haben ihre Scheu verloren.
Am meisten aber genieße ich das schöne Wetter. Es waren wohl doch zu viele Nebeltage auf den letzten Etappen.
Ich folge jetzt dem GR52, der durch den Nationalpark und bald zusammen mit dem GTM (Grande Traversée du Mercantour) ans Meer nach Menton führt. Die 16 Etappen des GTM und der Mercantour im Allgemeinen sind in Frankreich sehr populär. So musste ich meine Unterkünfte, trotz großer Kapazitäten der Hütten, bereits im Vorfeld buchen.
Übernachtung im Park
Während es entlang der GTA nur wenige populäre Berghütten gibt, bin ich hier gleich am ersten Tag richtig im Bergsporttrubel gelandet. Die 80 Betten des Refuge Nice sind komplett belegt. Alle Abläufe sind voll professionalisiert, sonst würde die Hüttenbesatzung das Pensum gar nicht schaffen. Außer einer Gruppe Dänen scheine ich der einzige Nichtfranzose zu sein. Mit meinem nicht vorhandenen Französischkenntnissen sitze ich abends wie ein Taubstummer im Essensaal.
Interessant finde ich, dass 5 Minuten hinter der Hütte ein Zeltareal eingerichtet wurde. Hier dürfen Zelter von 17- 9Uhr kostenlos ihre Zelte aufschlagen und können die Einrichtungen der Hütte nutzen. Eine super Sache, wie ich finde. Erstmals seit der Schweiz vermisse ich jetzt mein Zelt. Könnte ich doch ohne Reservierungsstress den Park genießen und hätte keine Mitschnarcher im Schlafsaal.
Grandioses Finale
Am nächsten Morgen bin ich einer der ersten, der sich auf den Weg nach Süden macht. Immerhin habe ich mir wieder zwei Tagesetappen vorgenommen und die Unterkunft bereits gebucht. Doch ich komme anfangs nur langsam voran. Immer wieder halte ich, staune und mache Fotos. Der Mercantour NP ist einfach grandios. Ich bin sehr froh, dass ich für die letzten Tage meiner Wanderung die südliche GTA verlassen habe. Einen schöneren Abschluss der großen Alpenüberquerung kann es, meiner Meinung nach, kaum geben kann. Es passt einfach alles: Wetter, Landschaft, Strecke.
Wie auf der italienischen Seite gibt es auch hier viele Zeugnisse der militärischen Erschließung der Alpen. Kasernen, Bunkeranlagen und gar schwere Kanonen verwittern auf über 2000 Meter Höhe. Die Landschaft selbst wird immer mediterraner. Auch wenn ich das Meer noch nicht wirklich sehen kann, bilde ich mir ein, dass es hin und wieder am Horizont funkeln oder dass ich es riechen könnte. Nach 25 Kilometern und 1400 Höhenmetern erreiche ich das Camp d' Argent.
Es hätte mich stutzig machen sollen, dass hier nur 6 Leute übernachten. In der langen Bestenliste der Unterkünfte meiner Wanderung stufe ich das Camp am nächsten Morgen ziemlich weit unten ein.
Aber ich treffe auf den Belgier Eric, der mit seinem zotteligen Bart und den abgerissenen Kleidern auch gut als Obdachloser durchgehen würde. Eric wandert auf dem GR5 und ist dabei noch länger unterwegs als ich. Anfang Mai startete von zu Hause in Belgien. - Was für eine Leistung.
Die letzten Kilometer
So langsam wird mir klar, dass in den nächsten Tagen die Wanderung enden wird. Was passiert danach? Aktuell kann ich diese Frage nicht beantworten. Ich stehe früh auf und laufe los bis ich am Abend an einer Unterkunft ankomme. Dann essen und schlafen. Am nächsten Morgen wiederholt sich dieser Ablauf. Wäre das Ziel noch tausend Kilometer entfernt, wäre mein Rhythmus vermutlich der gleiche. Aber das Meer rückt näher, das wird mir jeden Tag bewusster.
Heute erreiche ich Sospel, die letzte Kleinstadt vor der Küste. Die Etappenunterkunft ist geschlossen und wird von der Grenzpolizei genutzt. Auf meiner Suche nach einer Unterkunft treffe ich auf Karin und ihren Partner, die mir spontan anbieten, das ihr gerade gebuchte Zimmer mit Ihnen zu teilen. Die beiden habe ich seit dem Refuge Nice mehrmals täglich getroffen. Wie sich herausstellt sind beide Ultraläufer, also jene, die mal locker 100km und mehr in den Bergen als Wettkampf absolvieren. Leider ist auch hier wegen der Sprachbarriere nur eine eingeschränkte Verständigung möglich.
In Sospel treffen gleich mehrere Fernwanderwege aufeinander und so finden sich einige Fernwanderer, die hier die letzte Rast vor der finalen Etappe machen. Ich treffe Eric wieder, aber auch zwei Kanadier und ein paar Franzosen. Allen ist gemein, dass sie schon lange bis sehr lange unterwegs sind und morgen das Ende ihrer Wanderung erreichen wollen.
Ich nehme mir vor die letzten Meter (wenn man das bei noch ausstehenden 24km so sagen kann) sehr bewusst zu genießen. Das beginnt schon am Morgen mit einem Kaffee plus Croissant am Straßencafé. Ich lasse die anderen vorbeiziehen und folge in langsamen Tempo. Bis zum letzten Tag bleiben mir die Anstiege erhalten. Auch heute sind über 1000 Meter im Anstieg zu bewältigen. Das ist auch der Grund, dass das Meer bis zum Schluss nicht sichtbar ist.
Erst nachdem ich den letzten Pass erklommen habe liegt plötzlich Menton, die Küste und das Mittelmeer vor mir. Ich steige vom Pass noch etwas in die Höhe zum nächsten Gipfel um die tolle Aussicht in einer 360° Panorama zu veredeln. Unten liegt Menton, das Ende meiner Wanderung. Was wird passieren, wenn ich das Meer erreiche?
Um das herauszubekommen, muss ich hinab. Auf geht's.
Am Meer
Keine 2h später habe ich Menton erreicht. Die Stadt ist größer und touristischer, als ich das erwartet habe. Touristenmassen drängen sich durch die Innenstadt und ich laufe wie ferngesteuert den Weg hinab ans Meer.
Da ist es nun: Kleine Wellen schwappen an den Kiesstrand, die Leute genießen die Nachmittagssonne und einige Schwimmer ziehen ihre Kreise. Ich laufe bis ins Wasser und mache mit dem kleinen Stativ ein letztes Bild. Die lange Wanderung ist nun vorbei. Nach 93 Tage und 1700km ist einfach Schluss. Ich empfinde im Moment weder Trauer noch Freude. Ich glaub ich muss das erst einmal realisieren.
Jetzt landen der Rucksack und die Klamotten auf dem Kies. Ich springe ins Wasser. Was für eine Tour!
Fazit: Über den Mercantour ans Meer
- 4/0 Wander- /Pausentage
- 78 Kilometer
- 4.100 Höhenmeter im Anstieg
- Highlights: Mercantour, Etappe von Sospel nach Menton
- Überraschendes: einfache Zeltplätze im Mercantour NP, klares Wetter und kein Nebel auf der Westseite der Alpengrenze
- Negatives: nix
- Gefährliches: nix